Blickwechsel

Kontext

  • Hochschule Magdeburg-Stendal,
    Master Interaction Design
  • Sommersemester  2023
  • Masterthesis
  • Einzelarbeit
  • Betreuung: Prof. Dominik Schumacher,
    Dr. Sandra Maria Geschke
  • Schauwerk Magdeburg 2023,
    Ausstellung

Projekt

Die Master-Thesis untersucht, wie Techniken der intelligenten Videoüberwachung in einem Ausstellungskontext in eine wahrnehmbare Form übersetzt werden können. Das Ergebnis der Arbeit stellt die interaktive Installation „Blickwechsel“ dar, welche als Intervention im öffentlichen Raum die Überwachten automatisiert als „normal“ oder „auffällig“ bewertet. Gleichzeitig bilden menschliche Bewertungen neue Trainingsdaten für die automatisierte Verhaltensanalyse. Die Funktionsweisen des maschinellen Lernens werden greifbar, von der Generierung der Trainingsdaten bis hin zur Modellierung und Erkennung von „Normalität“ und „Abweichung“. In ersten Nutzer:innen Tests zeigte sich das Potenzial der Installation, mit einen niederschwelligen und spielerischen Zugang über Chancen und Risiken der „intelligenten“ Videoüberwachung zu informieren,  um damit einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Diskurs zu leisten.

Hintergrund

Die Videoüberwachung im öffentlichen Raum wird weiter ausgebaut und zunehmend automatisierter und vernetzter durch sogenannte „intelligente“ Überwachungssysteme. Mit dem Sicherheitsversprechen gehen Risiken einer umfassenderen, proaktiven und konformitätsfördernden Überwachungsstruktur einher. Angefangen bei den zugrunde liegenden Trainingsdaten bis hin zur Modellierung von „Normalität“ und „Abweichung“ bergen Technologien auf Basis automatisierter Mustererkennungsprozesse Gefahren der Disziplinierung und Diskriminierung und damit auch der Einschränkung der kulturellen Vielfalt im öffentlichen Raum. Neben einer überwiegend kritisch eingestellten Forschungslage zeigt sich in der Bevölkerung eine gewisse Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Dabei ist die gesellschaftliche Verhandlung im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit notwendig für eine demokratische Kontrolle von Entwicklung und Einsatz.

Leitfrage: „Wie kann ein öffentlicher Diskurs über den Einsatz und die Entwicklungen von Techniken der Videoüberwachung angeregt werden?“

Lösungsansatz

Ursachen eines mangelnden Diskurses wurden über Literaturrecherchen und persönliche Gespräche in einer mangelnden Wahrnehmung und Informiertheit gegenüber dem Einsatz und Techniken der Videoüberwachung identifiziert. Ein Lösungsansatz zum Ausgleich ermittelter asymmetrischer Beobachtungs- und Informationsordnungen kann in einer Transparenz eingesetzter Techniken der Videoüberwachung liegen. Neben der Voraussetzung für informationelle Selbstbestimmung kann Transparenz als Demokratisierungsprozess nach dem Prinzip „watch the watchers“ verstanden werden. Im Rahmen dieser Arbeit im Fach Interaction Design wird die gestalterische Frage behandelt, wie Transparenz durch die Übersetzung von Techniken der Videoüberwachung mit künstlerischen Mitteln in eine wahrnehmbare Form geschaffen werden kann.

Gestaltungsfrage: „Wie lassen sich Techniken der Videoüberwachung durch eine gestalterische Arbeit übersetzen?“

Konzeption

Zur Beantwortung der Gestaltungsfrage wurde ein Gestaltungsraum als Werkzeug zur Generierung, Analyse und Weiterentwicklung verschiedener Lösungsansätze entwickelt. Dazu wurden Gemeinsamkeiten der Übersetzung im literarischen Sinne und der Datenvisualisierung und Physikalisierung mit Blick auf kommunikative Ziele betrachtet und auf Basis zeichentheoretischer Modelle ein Möglichkeitsraum über verschiedene definierende Achsen geschaffen. Über vier Iterationen wurden verschiedene Ansätze der zu vermittelnden Inhalte und ihrer übersetzten Repräsentationen generiert und weiterentwickelt, wobei der methodische Rahmen sowohl Inspiration als auch eine strukturierte Analyse der Ergebnisse bietet.

Konzept Blickwechsel

Über verschiedene prototypische Aufbauten erfolgt die Weiterentwicklung zum Konzept der interaktiven Installation „Blickwechsel“. Die Programmierung des Prototyps erfolgt in der Sprache JavaScript unter der Verwendung der auf Tensorflow aufbauenden Bibliothek ml5.js, welche Zugang zu Algorithmen und Modellen des maschinellen Lernens im Browser ermöglicht.

Bei der eingesetzten automatisierten Verhaltensanalyse wird die Erkennung von Körperposen über skelettartige Repräsentationen der Körperteile spiegelbildlich in den überwachten Raum übersetzt. Die Klassifizierung und Bewertung der erkannten Posen werden über farbliche Codierungen vermittelt. Die Beobachtung durch eine:n Operateur:in wird mit einer blick- beziehungsweise mausverfolgenden Kreismaske mit den Echtzeit Videobildern an der beobachteten Position im überwachten Raum übertragen. Die Bewertung durch den:die Operateur:in wird im Kontrollraum über das Drücken von Buzzern erfasst und in der Wandprojektion über farbliche Codierungen des bereits visualisierten Blickfelds dargestellt. Dabei dienen die Bewertungen als Trainingsdaten für das zugrunde liegende Modell der Verhaltensklassifizierung. Mit dem Zusammenspiel menschlicher und technischer Akteure wird ein greifbarer Zugang über die Funktionsweise algorithmischer Mustererkennungsprozesse angestrebt. Gleichzeitig wird die Installation sowohl mit als auch ohne Personen im Kontrollraum nutzbar.

Nutzer:innen Test

Das Konzept der Installation „Blickwechsel“ wurde mit acht Testnutzer:innen über einen prototypischen Aufbau in den Räumlichkeiten des Forums Gestaltung in Magdeburg evaluiert. Im Fokus stand die  Beobachtung der Testnutzer:innen während der Interaktion, sowie anschließende offene Gespräche. Neben einer Vorbefragung zum Thema der Videoüberwachung im öffentlichen Raum wurden Aspekte der Wirkungen und Gefühle, des Verständnisses und Anregungen durch die Interaktion mit der Installation zusätzlich durch qualitative Fragebögen in Papierform festgehalten. Das subjektive Nutzer:innen Erlebnis wurde mit einem quantitativen Fragebogen unter pragmatischen und hedonischen Qualitäten erfasst.

Wirkungsfrage: „Welche Wirkungen erzielt die Interaktion mit der Installation Blickwechsel?“

Ergebnisse und Weiterentwicklungen

Mit der Übersetzung der automatisierten Verhaltensanalyse in spiegelbildliche, interaktive Darstellungen werden Informations- und Sehordnungen ausgeglichen und eine spielerische und Interesse weckende Situation geschaffen. Während die Beobachtung und Bewertung im überwachten Raum als unangenehm wahrgenommen wurde, zeigten sich im Kontrollraum Gefühle von Macht und Kontrolle. Die Bedeutung der farbigen Visualisierungen wurde teilweise nicht sofort verstanden, weshalb für die folgende Ausstellung eine prägnante Frage als Aufhänger und Erklärung  ergänzt wurde. Des Weiteren wurden ergänzende Informationen durch ein Plakat mit  Hintergrundinformationen über die Thematik und Funktion der Arbeit bereitgestellt. Neben Optimierungsmöglichkeiten zeigten die anschließend geführten Diskussionen der Testnutzer:innen untereinander, dass die Installation „Blickwechsel“ viel Potenzial bietet, Auseinandersetzungen und Diskurse zur Überwachungsthematik anzustoßen.

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