Blickwechsel: Ein immersives Überwachungserlebnis

Das unsichtbare sichtbar machen:

Konzeption, Prototyping, Test und Ausstellung einer interaktiven Intervention im öffentlichen Raum. Blickwechsel macht algorithmische Überwachungsprozesse erlebbar, informiert spielerisch und regt wichtige Diskurse an.

Kontext:
// Challenge

„Intelligente“ Videoüberwachung: Mangelnder Diskurs im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit

Die Videoüberwachung im öffentlichen Raum wird ausgebaut und immer automatisierter. Mit dem Sicherheitsversprechen gehen Risiken einer umfassenderen, proaktiven und konformitäts-fördernden Überwachungsstruktur einher. Trotz kritischer Forschungslage zeigt sich in der Bevölkerung viel Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Dabei ist ein informierter Diskurs notwendig für die demokratische Kontrolle von Einsatz und Entwicklung von Überwachungstechnologien.

Einsatz und Entwicklung sollten transparent und öffentlich diskutiert werden.

„Watch the Watchers“: Das unsichtbare sichtbar machen.

Ursachen des mangelnden Diskurses liegen in der fehlenden Wahrnehmung und Informiertheit über Techniken der („intelligenten“) Videoüberwachung. Man sieht den Kameras nicht an, was hinter den Kulissen passiert. Deshalb sollen Formen „intelligenter“ Videoüberwachung in eine wahrnehmbare Form übersetzt werden.

Was sieht die Kamera? Wahrnehmung als Voraussetzung für einen informierten Diskurs

// Solution:

Blickwechsel: Eine interaktive Intervention im öffentlichen Raum

Blickwechsel schafft durch Transparenz ein Bewusstsein für Überwachungssituationen und informiert spielerisch über aktuelle und zukünftige Technologien der Videoüberwachung – am Beispiel der automatisierten Verhaltensanalyse.

Überwachter Raum: Was sieht die „intelligente“ Verhaltensanalyse? Was sieht der überwachende Mensch?

Überwachung im Kontrollraum:  Im Zusammenspiel mit der automatisierten Verhaltensanalyse mit der Generierung neuer Trainingsdaten

Interaktionskonzept:

  1. Die Erfassung, Analyse und Bewertung (normal oder auffällig) durch die automatisierte Verhaltensanalyse wird sichtbar
  2. Die Beobachtung (Blickfeld) durch eine Person im Kontrollraum wird sichtbar
  3. Die menschliche Bewertung durch eine Person im Kontrollraum (normal oder auffällig) wird sichtbar
  4. Die menschliche Bewertung trainiert das Modell der Verhaltensanalyse, das neuronale Netzwerk wird angepasst
Design Prozess
// Recherche & Forschungsfrage:

Literaturrecherche: Wir sollten über „intelligente“ Videoüberwachung diskutieren

Angefangen bei den zugrunde liegenden Trainingsdaten bis hin zur Modellierung von „Normalität“ und „Abweichung“ und intransparenten algorithmischen Entscheidungsfindungen bergen automatisierte (Video)-Überwachungstechnologien Risiken. Ihr Einsatz erfordert neue Rechtsgrundlagen und eine sorgfältige Abwägung zwischen Sicherheitsbelangen und Freiheits- sowie Grundrechten.

Interviews mit zufälligen Personen am Hasselbachplatz in Magdeburg

Straßenumfrage: Ein Problem der Wahrnehmung und Information

Ich habe mit Menschen am Hasselbachplatz in Magdeburg Interviews geführt. Die meisten Befragten nehmen Kameras vor Ort nicht wahr und wissen nicht, welche Technologien zum Einsatz kommen und ob, und wie Daten weiterverarbeitet werden.

Forschungsfrage:

Wie lassen sich Techniken der „intelligenten“ Videoüberwachung wahrnehmbar und verständlich übersetzen? Um ein Bewusstsein für die Überwachungssituation zu schaffen und über Funktionsweisen, Chancen und Risiken eingesetzter Technologien zu informieren.

// Ideation

Entwickelter Gestaltungsraum mit verschiedenen definierenden Achsen

Gestaltung als Übersetzung

Zur strukturierten Generierung, Analyse und Weiterentwicklung von Ideen habe ich ein eigenes Modell auf Basis von Übersetzungstheorien (im literarischen Sinne), Zeichentheorie, Kommunikationstheorie und Datenvisualisierung und -physikalisierung entwickelt.

110 Lösungsansätze über vier Iterationen

Mit dem entwickelten Gestaltungsraum entwickelte ich 110 verschiedene Ideen. Über den Prozess arbeitete ich den Lösungsansatz einer Intervention im öffentlichen Raum aus, die automatisierte Verhaltenanalyse im Zusammenspiel mit menschlichen Operateuren interaktiv vermittelt.

// Konzeption

Erste Prototypische Aufbauten und Weiterentwicklung

Über verschiedene prototypische Modelle erfolgte die Weiterentwicklung zum Konzept der interaktiven Installation „Blickwechsel“.

Erste Funktionsmodelle im Maßstab 1:10

Konzept „Blickwechsel“

Das Konzept besteht aus einem überwachten Bereich und einem Kontrollraum. Passanten sehen sich spiegelbildlich aus Sicht der automatisierten Verhaltensanalyse als „Skelette“ („normale“ Pose = grün, „riskante Pose“ = rot). Bei der gleichzeitigen Überwachung durch eine Person im Kontrollraum, wird das Blickfeld sichtbar. Im Kontrollraum können die Körperhaltungen mit Buzzern bewertet werden. Dabei werden neue Trainingsdaten für die automatisierte Verhaltensanalyse generiert und das neuronale Netzwerk passt sich in Echtzeit an.

Zusammenspiel der Interaktionen im Kontrollraum und im überwachten Bereich

// Prototyping

Programmierung mit JavaScript und ml5.js

Für die Programmierung in JS nutzte ich die auf Tensorflow aufbauenden Bibliothek ml5.js. Die Erkennung von Personen und Körperposen erfolgte durch das Modell PoseNet. Zum Trainieren des eigenen Verhaltensmodells mit anschließender Klassifizierung der Posen nutzte ich ein eigenes neurales Netzwerk.

Vereinfachter Programmablauf

Erster Aufbau von „Blickwechsel“ im Forum Gestaltung

Für den ersten Nutzer:innen Test nutzte ich Räumlichkeiten des Forums Gestaltung in Magdeburg. Eine großflächige Fensterscheibe wurde als Projektionsfläche genutzt, die den überwachten Bereich im Innenhof vom Kontrollraum trennt.

Aufbau für den Nutzer:innen Test

// User Testing

Forschungsinteresse und Methodik

Ich führte einen Nutzertest mit 8 Personen durch, die kleinere Gruppen bildeten und ohne weitere Anleitungen im überwachten Raum und im Kontrollraum mit der Installation interagierten. Im Anschluss füllten die Nutzer:innen einen Fragebogen zur Wirkung,  Verständnis, Anregungen und User-Experience aus. Abschließend erfolgte eine offene Gruppendiskussion.

Forschungsinteresse und Methodik

Beobachtungen

Zu Beginn wirken die Testnutzer im überwachten Bereich überrascht und unsicher, was sich schnell in spielerisches Experimentieren mit verschiedenen Körperposen verwandelte. Es entstand ein interaktives Spiel zwischen den Überwachten und den Personen im Kontrollraum.

Ergebnisse der Evaluation

Die Ergebnisse der Fragebögen, Beobachtungen und Gespräche bestätigten die Wirksamkeit des Konzepts „Blickwechsel“ und zeigten auch einige Verbesserungsmöglichkeiten auf.

// ReDesign

Weiterentwicklungen

  • Einleitende Frage: „Bist du normal oder auffällig“ zur Einordnung der Farben und als „Call to Action“
  • Anpassung der Bewertungkategorien „nomal“ & „riskant“ in „normal“ & „auffällig“
  • Darstellung beispielhafter Körperposen als Inspiration zum ausprobieren
  • Ergänzendes Poster mit weiterführenden Informationen

Ausstellungskonzept für die Intervention in der Innenstadt in Magdeburg

// Ausstellung

Ausstellung der Intervention in der Innenstadt in Magdeburg und auf den University Future Festival in Berlin

Ich habe „Blickwechsel“ eine Woche auf dem auf dem Breiten Weg in Magdeburg ausgestellt. Der überwachte Bereich lag in der Fußgängerzone und der Kontrollraum im Co-Working Space „Schauwerk“. Die Visualisierungen wurden auf das (mit Acrylfarbe benetzte) Schaufenster projiziert. Auf dem University-Future Festival habe ich die Intervention mit dem Einsatz eines großen Bildschirms umgesetzt.

// Refexion

Blickwechsel schafft ein immersives Erlebnis und informiert spielerisch über aktuelle und zukünftige Technologien der Videoüberwachung

Die Funktionsweisen des maschinellen Lernens werden greifbar, von der Generierung der Trainingsdaten bis hin zur Modellierung und Erkennung von „Normalität“ und „Abweichung“. Die Intervention schafft über das Erleben einen niederschwelligen und spielerischen Zugang zu Funktionsweisen, Chancen und Risiken der „intelligenten“ Videoüberwachung, und regt damit zur Auseinandersetzung mit der Thematik an.

Learnings:

Ich verbesserte meine Fähigkeiten im Programmieren und entwickelte über „learning by doing“ eine Umgebung, in der Nutzer:innen durch Ihre Interkationen selbst Neuronale Netzwerke trainieren können.

Die Nutzertests einer raumgreifenden Installation erforderten viel Organisation – von der Raumsuche über den Aufbau, der Rekrutierung und Auswertung habe ich gelernt, Nutzertests effizient zu planen.

Durch die intensive Beschäftigung mit Theorien der Übersetzung, Kommunikation und Visualisierung lernte ich, meinen Ideation-Prozess zu strukturieren und Ergebnisse analytisch zu Reflektieren.

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